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#Buchtipp: Sachbuch „Das passende Leben“ von Remo H. Largo

Immer mehr Ratgeber und Zeitschriften wollen Tipps geben, wie wir glücklicher, zufriedener oder erfolgreicher werden. Das Sachbuch „Das passende Leben –  Was unsere Individualität ausmacht und wie wir sie leben können“ von Remo H. Largo zählt auf den ersten Blick dazu. Janina hat das Buch von dem bekannten Kinderarzt und Entwicklungsforscher für die GLUCKE gelesen.

 

Die Vorschau auf dem Buchrücken  macht mich neugierig auf das Sachbuch von Largo. Es verspricht mir Antworten auf Fragen wie: „Lebe ich wirklich das Leben, das zu mir passt?“. Außerdem verspricht es mir Wissen, um meinen individuellen Bedürfnissen und Kompetenzen auf die Spur zu kommen.  Ein Buch über Stärken und Schwächen und ein dazu passendes Leben klingt gut. Das Credo des Autors auch:

„Jeder Mensch ist einzigartig – im Einklang mit unseren Bedürfnissen und Begabungen zu leben, ist zugleich unsere größte Herausforderung und Chance“ – Remo H. Largo.

Remo H. Largo ist Vertreter der Evolutionstheorie. Wer sein Buch liest, bewegt sich einmal quer durch die Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Largo streift dabei zahlreiche Studien aus der Psychologie und Entwicklungsforschung, Medizin, Pädagogik oder Antropholoie. Anhand dieser Fakten und Erkenntnisse entwickelt Largo eine eigene Theorie vom passenden Leben. Er nennt sie das „Fit-Prinzip“ und meint damit die Übereinstimmung unserer Lebensumwelt mit unseren individuellen und generellen menschlichen Grundbedürfnissen. Wichtig! Es geht ihm ausdrücklich nicht um Besten-Auslese im Sinne der Darwin-Lesart über das Gesetz zum „Survival of the fittest“. Anfangs habe ich dennoch Probleme mich auf all die evolutionsbasierten Bedürfnis-Studien einzulassen. Manches klingt angestaubt, wie etwa Largos Dafürhalten für ein Zusammenleben in größeren Gruppen, die uns Zugehörigkeit böten. Einige Studien zu Gruppendynamiken fallen mir ein. Ich sehe auch Nachteile, wie eine feste Rollenzuweisung und Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse.

Largo: Jeder Mensch hat individuelle Talente und Schwächen

Largos Ausführungen zu seinen Erfahrungen als Kinderarzt und Therapeut lassen mich aber durchhalten. Wenn er zum Beispiel von verzweifelten Eltern schreibt, die zu ihm kommen, um ihr Kind an alle anderen Kinder im gleichen Alter anzupassen, wird er mir sympathisch. Denn dann argumentiert Largo dagegen und betont, dass jedes Kind und jeder Mensch eben ganz individuelle Talente und Schwächen habe. Das moderne Leben provoziert aus seiner Sicht erst ein Problem: „Jeder Mensch strebt danach, mit seinen individuellen Bedürfnissen und Begabungen in Übereinstimmung mit seiner Umwelt zu leben“ (S. 17). Wirtschaft und Gesellschaft (über)fordern viele Menschen mit den Anforderungen des modernen Lebens. Daher „versucht jeder Mensch sein  Leben lang, sich auf die Anforderungen  der Umwelt so einzustellen, dass er seine Bedürfnisse möglichst gut befriedigen kann“ (S. 19.).

Eigene Talente erkennen, passendes Lebensumfeld suchen

Largo zieht einige Forschungsergebnisse über unsere Anlagen und Talente heran. Die Schwächen, so der Autor, machen uns ebenfalls aus. Schon als Kind bestimmen Anlage und Umwelt, wie wir uns entwickeln und lernen. Doch Largo will diesen Fakt nicht fatalistisch verstanden wissen. Er zitiert Forschungen über eineiige und zweieiige Zwillinge. Egal ob die Kinder gemeinsam im gleichen Umfeld oder getrennt aufwuchsen. Trotz gleicher Erbanlagen unterschieden sich die Kinder klar darin, für was sie sich interessierten oder was sie mochten.  (vgl. Teil II, ab S. 177 ff.) Für Largo ist das ein klarer Hinweis darauf, dass wir uns individuell entwickeln nach unseren Interessen und Wissensdurst für bestimmte Bereiche. „Es gibt aber auch einen dritten, genauso wichtigen Akteur, nämlich das Kind selbst.

Der passende Lebensentwurf für Erwachsene?

Largos Buch dreht sich im letzten Drittel um seine Idee für das „Fit-Prinzip“, als Grundlage oder Denk-Schablone für die Suche nach einem indviduell passenden Lebensentwurf. Hier zieht er  Beispiellebensläufe aus einer Langzeitstudie von Kindern bis ins Erwachsenenalter heran. Er vergleicht beispielhaft verschiedene Lebensentwürfe. Dabei betrachtet er unterschiedliche Kompetenz- und Bedürfnisprofilen von Erwachsenen aus der Studie. Basierend auf der Anmerkung, dass individuelle Lebensentwürfe nicht austauschbar sind, unternimmt Largo den Versuch für bessere Ausgangsbedingungen zu werben. Er benennt einige politische Gestaltungshinweise für passendere Bildung, zeitgemäßere Politkstile oder plädiert für neue Wohn- und Lebensgemeinschaften

Das passende Leben – Mein Fazit:

Lesenswertes Buch, für alle mit Lust auf einen Überblick über die Klassiker der menschlichen Entwicklungstheorien, über Piaget, Freud, Maslow und Maturana.
Lesenswert auch für Leser auf der Suche nach Anregungen zum Weiterlesen.

Was das Buch nicht einlöst:

Mit der Frage, wie unsere ureigenen Schwächen und Stärken aussehen, lässt der Autor uns ziemlich alleine. Das Versprechen vom Klappentext löst das Buch nicht ein. Largo stellt auf Seite 400 ff. eine Liste von Fragen zusammen und schlägt vor, sie mit einem Blatt Papier und der „Focussing“-Methode für sich selbst zu beantworten.
Leider kann ich mich an viele erfragten Situationen in der Kindheit ohne professionelle Anleitung nicht erinnern und komme also meinen Grundbedürfnissen und Schlüsselerlebnissen so nicht näher.  Die Frage, wann mein Leben der passenden „Fit“-Situation gleicht und ich allen Stress durch „Misfit“-Situationen umschiffe, kann ich also für mich nicht beantworten.

Immerhin gibt die Lektüre der 450 Seiten ohne Anhang Anregungen zum Nachdenken und könnte Entlastung für Perfektionisten bieten. Die Message „Jeder Mensch ist einzigartig und sollte möglichst seinen Weg gehen können“, bleibt sympathisch.


Remo H. Largo: „Das passende Leben“. Was unsere Individualität ausmacht und wie wir sie leben können. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2017. 480 S., geb., 24,– Euro.

Text und Fotos: Janina Weinhold